Wer war Seyit Riza?

„War Seyit Rıza ein Großgrundbesitzer mit 230 Dörfern, wie so oft von türkischen Nationalisten behauptet wird?“

Nein, das war er nicht! Seine Familie besaß nur das Dorf, in welchem sie auch wohnten, die Rede ist vom Dorf Ağdat. Zudem gehörten ihnen auch noch 5 weitere Grundstücke in den Weilern (Siedlungsgebiete, die kleiner als ein Dorf sind) Loşik, Zeynikan, Haçkirek, Kırğan Kirmıli und Dere Areyi, diese waren jedoch so klein, dass man dort lediglich nur 2-3 Familien ernähren konnte. In der Region Dersim gab es so gut wie gar keine Großgrundbesitzer, die einzigen, die solch einen Status hatten, waren die Beys von Çarsancak und Hüseyin Bey aus Pülümür (damals Kuziçan). Die Beys von Çarsancak waren türkische Sunniten und Hüseyin Bey und seine Angehörigen waren ursprünglich sunnitische Zazas aus Palu, die mit der Zeit zum Alevitentum konvertierten. Hüseyin Bey hat während seiner Zeit als Kaymakam, durch die Befugnisse, die er dadurch hatte, viele Grundstücke der Dorfbewohner an sich gerissen, so dass Hüseyin Bey seine Familie Anfang des 20. Jahrhunderts 366 Dörfer in ihren Besitz hatten. Obwohl zahlreiche Beschwerden von der Bevölkerung eingingen, hielt die Regierung an der Zusammenarbeit fest. Hüseyin Bey sein Sohn wurde sogar mit dem Titel des Mir-i Miran ausgezeichnet. Wie ihr sehen könnt, konnten sich nur diejenigen zum Großgrundbesitzer etablieren, die auch erfolgreich mit dem Staat kooperierten.


„Hat Seyit Rıza den Koçgiri-Aufstand unterstützt?“

Nein, das hat er nicht! Nuri Dersimi und Alişer bemühten sich darum, Seyit Rıza für ihren Aufstand zu gewinnen, doch er hatte abgelehnt. Aber als die Koçgiri-Aufständler, nach ihrem gescheiterten Aufstand nach Dersim flüchteten, bemühte sich Seyit Rıza um ihre Begnadigung. Seyit Rıza hat sich nicht so sehr gegen den Staat aufgelehnt, so wie es sich einige wünschen, nur 1908 und 1912 kam es zu Auseinandersetzungen mit dem Staat und er wurde daraufhin zum Tode verurteilt, doch dann wurde eine Amnestie erlassen.


„Hat Seyit Rıza im Dienste des türkischen Staates gegen andere Stämme gekämpft?“

Ja das hat er! Als der verfeindete Kırğan-Stamm 1914 gegen den Staat rebellierte, hat Seyit Rıza eine aktive Rolle bei der Bekämpfung der Rebellion eingenommen und Süleyman Ağa (Kırğan) wurde dabei getötet. Ein Jahr später brannte der Abbasan-Stamm mit staatlicher Genehmigung bzw. Unterstützung die Dörfer des Kırğan-Stammes nieder. An der Militäroperation gegen den Koç-Uşağı-Stamm im Jahre 1926 nahm Seyit Rıza auch teil, doch es wird erzählt, dass er hinter den Kulissen die Koç-Uşağı-Angehörigen beschützt hätte. Daher kann man wohl davon ausgehen, dass er der Forderung (Teilnahme an der Militäroperation) des Vali Cemal Bardakçı Folge geleistet hatte, um nicht selber ins Visier zu geraten. Nichtsdestotrotz konnte Seyit Rıza durch die (wohl manchmal von türk. Seite erzwungene) Kooperation mit dem Staat seine Stellung in Dersim erhöhen bzw. sich durchsetzen. Dass einige Stämme zum Zwecke ihrer Interessen immer wieder mit dem Staat zusammengearbeitet haben, war nichts ungewöhnliches in Dersim. So hat der Karabal-Stamm z. B. 1891 mit Unterstützung staatlicher Behörden die Dörfer des Koçuşağı-Stammes überfallen. Der Çarekan-Stamm konnte durch die Zusammenarbeit mit der Regierung (obwohl sie in der Vergangenheit miteinander in Konflikt standen) ihre Dominanz in der Region Kuziçan (Pülümür) befestigen. Erwähnenswert hierzu wäre auch noch, dass Seyit Rıza eine aktive Rolle bei der Bekämpfung der Russen eingenommen hatte.


„Hat Seyit Rıza im Jahre 1937 zu den Waffen gegriffen, um den türkischen Staat zu bekämpfen?“

Nein, das hat er nicht! Als Ende März die Stämme der Haydaran und Demenan eine Holzbrücke niederbrannten, versicherte Seyit Rıza dem Militärgouverneur Abdullah Alpdoğan, dass er nichts damit zu tun hatte. Und während Ende April Polizeistationen von den in Ost-Dersim beheimateten Stämmen Haydaran und Demenan attackiert wurden, gab es in West-Dersim, in der Region von Seyit Rıza, so gut wie gar keine Angriffe gegen staatliche Einrichtungen. Durch die Angriffe der Demenan und Haydaran hatten sich die türkischen Soldaten bis nach Mazgirt zurückgezogen. Seyit Rıza schickte daraufhin seinen engen Freund Seyit Hüseyin (Uşene Seydi) aus dem Kureyşan-Stamm zu den Demenan, der sie darum bitten sollte, vor Mazgirt den Rückzug anzutreten. Zehn Tage später traf sich Cebrail Ağa (Demenan) mit Seyit Rıza in Halbori. Cebrail Ağa wollte gegen die Türken kämpfen und sprach sich für ein Bündnis aus, doch Seyit Rıza stellte sich gegen eine bewaffnete Auseinandersetzung mit dem Staat. Man einigte sich am Ende darauf, dass falls die Türken eine Militäroperation starten sollten, dann jeder Stamm sein eigenes Gebiet schützt und dass man in Pertek eine Verteidigungslinie errichtet. Doch einige opponierten gegen dieses Vorhaben, sodass dies nicht umgesetzt wurde. Bald sollte eine Militäroperation gegen den Demenan-Stamm gestartet werden und der Militärgouverneur Alpdoğan wollte, dass Seyit Rıza ihn bei dieser Operation unterstützt. Falls er nicht auf türkischer Seite kämpfen sollte, dann solle er mit seiner Familie in ein anderes Gebiet ziehen. Seyit Rıza befand sich nun in einer Zwickmühle, er wollte nicht gegen seinen Kivra Cebrail Ağa in den Krieg ziehen und er wollte auch nicht an den von den Türken ihm zugewiesenen Platz wegziehen, da er den Türken nicht vertraute. Aufgrund dieser ausweglosen Situation beschloss er in die Berge zu flüchten. Ihr Versteck wurde von anderen Stämmen verraten, sodass seine Familie daraufhin massakriert wurde. Seyit Rıza selbst war zu diesem Zeitpunkt nicht anwesend, daher konnte er entkommen. Doch er wurde schließlich am 10. September, beim Versuch nach Erzincan zu gelangen, geschnappt.


Die Türken, aber auch einige Kurden, stellen Seyit Rıza gerne als einen Aufständler dar, doch die Wahrheit ist, Seyit Rıza hat 1937 keine einzige Kugel abgefeuert. Er hat versucht bewaffnete Auseinandersetzungen mit dem Staat zu vermeiden und ist von Höhle zu Höhle geflüchtet.


(Diese Informationen hier über Seyit Rıza basieren auf die Forschungsergebnisse von Mehmet Yıldırım, Doktorand an der Istanbuler Universität für Wirtschaftsgeschichte. Er hat hierfür Dokumente aus den Staatsarchiven und mündliche Überlieferungen, z. B. die der Familienangehörigen von Seyit Rıza, herangezogen.)

Autor: Van Dersim

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