Habt ihr schon gewusst, dass es in Dersim eine ca. 1000 Jahre alte Secere (Ahnentafel/Stammbaum) gibt? Es ist die Secere von Seyh Dilo Belincan bzw. Six Delil-i(e) Berxecan, welche vom Prof. Dr. Erkan Yar (Theologische Fakultät der Universität Firat) und dem Investigativ-Autor Erdogan Yalgin analysiert wurde. Seyh Dilo Belincan hat vermutlich zwischen Ende des 10. und der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts gelebt und war ein Schüler von Ebu’l Vefa el-Kurdi. Diese Secere ist 3 m lang, ca. 30 cm breit und in Arabisch auf Pergamentleder geschrieben. Diese im Jahre 1010 vom persönlichen Schreiber Ebu’l Vefas verfasste Secere wird von den Ocak-Mitgliedern als „Secere ye Six Delil-i Berxecan“ bezeichnet. Darin steht, dass Seyh Dilo Belincan nach Cemisgezek (Dersim wurde damals so bezeichnet) gehen und die Kurden (cemaeti’l-ekrad’i) dort bekehren soll. Insgesamt sind 43 kurdische Stämme in der Secere aufgelistet. Der Süleymani/Silemanian-Stamm z.B., welcher darin vorkommt, ist wohl der heutige Süleymanli-Clan des Pilvenk-Stammes. Der Sadiyan-Stamm (Sadilli) wird auch erwähnt und sowie ein gewisser Keykan-Stamm, welcher noch im 16. Jahrhundert in den Dörfern Keykanlu und Pulnak in Cemisgezek gelebt hat, ein Teil davon wurde zu Zeiten von Sah Abbas in Chorasan angesiedelt.
Eine Frage, die sich jetzt vielleicht einige stellen dürften: „Welchem Glauben gehörten diese Kurden, vor der Ankunft Seyh Dilo Belincans, an?“
Es werden in der Secere nicht nur die Namen der Stämme, sondern auch die der Dörfer erwähnt. Diese werden als „Hurmüz Ebvan mülkü“ (Land des Hurmüz) bezeichnet. Hurmüz/Hormuz/Ormus ist ein anderer Name für Ahura Mazda (Schöpfergott der Zoroastrier). Wenn jetzt mit Hurmüz tatsächlich diese Gottheit gemeint ist, dann kann man davon ausgehen, dass es sich bei diesen Kurden um Anhänger des Zoroastrismus bzw. einer Version davon handelte. Da der Begriff Zoroastrier eben als ein Sammelbegriff für iranische Religionen zu bewerten ist, kann nicht zweifelsfrei gesagt werden, dass es sich bei diesen Kurden eindeutig um Zoroastrier handelte. Seit dem 9. Jahrhundert ist z.B. auch die Anwesenheit kurdischer Churramiten in dieser Region historisch belegt. Diese in der Secere aufgelisteten kurdischen Stämme könnten also vielleicht auch Churramiten gewesen sein.
In der Secere befinden sich übrigens auch Beglaubigungsvermerke von Kai Kobad, Dschingis Khan und Kai Kaus.
Also in Dersim angekommen, hat sich Seyh Dilo Belincan in dem Dorf Pilvank/Pilvenk (Dedeagac) niedergelassen. Er kam dort mit den einheimischen Stämmen in Kontakt und aus diesen Beziehungen entstand dann der „Six Delil-i Berxecan Ocagi“.
Die Mitglieder dieses Ocaks bezeichen ihn nicht so wie es in der Secere drin steht als Seyh Dilo Belincan, sondern als Six Delil-i(e) Berxecan (Seyh Delil-i Berhican). Wie ihr wisst bzw. wissen solltet, gibt es zu jedem Ocak-Begründer eine mythische Erzählung, worin dieser sich mit Wunderkraft hervortut. Diese Geschichte wird von den Ocak-Mitgliedern über Seyh Dilo Belincan überliefert: Als er neu im Dorf Pilvank ankommt, trifft er dort auf einen christlichen Geistlichen, der in diesem Gebiet Autorität genoss. Der christliche Geistliche jedoch möchte nicht, dass er sich in Pilvank niederlässt, er stellt sich dagegen und es kommt zu einem Streit. Kurz daraufhin passieren übernatürliche Ereignisse, das Haus des christlichen Gelehrten und die Kirche stürzen ein. Infolgedessen verlässt er das Gebiet und der Six zieht ein. Der christliche Geistliche möchte die Wogen wieder glätten und schickt deswegen dem Six zusammen mit seinem Sohn ein Schaf. Nachdem der Six das Schaf geschlachtet hat und sie es gemeinsam gegessen haben, erweckt er aus dem Knochen des Schafes das Schaf erneut zum Leben. Als die einheimischen Kurden (Kurmanci-Sprecher) dieses Wunder miterleben, geben sie ihm den Namen „Berxecan“ (Berx = Schaf; Can = Seele), was sowas wie „der, der dem Schaf Seele gibt“, bedeutet. Fortan sehen sie in ihm einen Heiligen (das Wunder hat es bewiesen), sie geben ihm daher für die Erleuchtung (gönül gözleri acildi/sie haben ihr Seelenauge entdeckt) den Beinamen Delil und da er alt und gebildet war, erhält er auch den Titel Six.
Six Delil-i(e) Berxecan bedeutet somit: Der Scheich, der sich durch die Wiederbelebung des Schafes offenbarte.
Erwähneswert zu dieser Secere ist auch noch, dass diese schon mal 1997 übersetzt wurde, jedoch bei den Übersetzern großen Unmut auslöste. Hier die Geschichte dazu: Vedat Simsek, der Vorsitzende der Handelskammer von Pertek und Angehöriger des Helifan-Clans des Pilvenk-Stammes, erwähnte einem Leutnant, der auch Theologe war und auch in der Imam-Hatip-Schule unterrichtete, von der Secere. Dieser schlug ihm vor, dem Kaymakam Ahmet Ümit davon zu berichten. Der Kaymakam trat daraufhin mit Hocas aus der Erzurum Atatürk Universität und aus der Kayseri Erciyes Universität in Kontakt, welche schon bald nach Dersim kamen und mit der Übersetzung begannen. Als sie bei der Übersetzung plötzlich auf Begriffe wie „kurdische Stämme“ trafen, verschlug es den Hocas die Sprache und einer von ihnen bemerkte verärgert: „Halla, halla! Ich treffe zum ersten Mal auf sowas. Von wo ist das denn aufgetaucht?“ Entsetzt und bestürzt murrte ein anderer Hoca: „Wenn ich gewusst hätte, dass das (die Secere) so ist, dann wäre ich nicht gekommen.“ Die Hocas aus Erzurum verlangten daraufhin, dass die Stellen, in denen Begriffe wie „Kurde/kurdisch“ vorkommen, nicht übersetzt bzw. entfernt werden sollten, doch einer der Hocas aus Kayseri (laut Vedat Simsek vermutlich ein kurdischer Alevite) stellte sich dagegen und bestand darauf, die Secere so zu übersetzen wie sie auch wirklich ist.
Tja, da leugnet man jahrzehntelang die Existenz eines kurdischen Volkes und plötzlich muss man lesen, dass schon vor 1000 Jahren in der Secere von Seyh Dilo Belincan die Existenz von Kurden in Anatolien festgehalten wurde. Ja, mit Sicherheit ein Riesenschock für die Hocas damals.
Autor: Van Dersim
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